11.4.22

Auf Nevigeser Stammtischen stehen immer noch die riesigen Aschenbecher mit dem hübsch geschwungenen Überbau, nur geraucht werden darf offiziell nicht mehr, seit die Landesregierung in Düsseldorf die Gesundheit ihrer Wählerinnen und Wähler in die Hand genommen hat. Das kostet die Wirte Umsatz und die Stammtische Mitglieder. Trotzdem riecht es in einigen Kneipen verdächtig nach Tabak. Nicht nach Roth-Händle oder Overstolz oder Eckstein, die gibt es kaum noch zu kaufen im Kaff, sondern nach Jakordia, Boston oder Power aus dem Supermarkt. Und nach Selbstgedrehten. Das Herrengedeck – ein Pils, ein Korn – ist billig, Mett- und Käsebrötchen mit jungem Gouda und Gürkchengarnitur auch. – Der bekannteste Stammtisch steht in der »Waage« am Busbahnhof. Ist nix für Apotheker und Pfarrer oder andere wichtige Leute, sondern für alle, die Durst haben und eigentlich nicht viel reden wollen. Bestellt wird mit einer einfachen Türklingel, die fest auf einem Frühstücksbrettchen montiert auf dem Tisch liegt. Funktioniert prima. Einmal klingeln: ein Pils, zweimal klingeln: ein Pils und ein Korn, dreimal klingeln: eine Runde. Ein Pils dauert acht Minuten, ein schnelles Pils keine dreißigSekunden. Die Eckstein, so erzählt man sich, war wegen der grünen Verpackung früher eine der beliebtesten Zigaretten in Nevigeser Kneipen. Leute, die von morgens bis abends am Tresen hockten – und sich nicht an der frischen Luft bewegten –, hatten so wenigstens etwas Grün vor Augen. Vielleicht stammt die Geschichte aber auch aus dem Ruhrgebiet, in dem es – ebenfalls so ein Gerücht – früher weniger Grünflächen gab.
Norbert Molitor: Im Kaff der guten Hoffnung. Piper Verlag, vergriffen (Hinweis an Leser von außerhalb: die Waage ist geschlossen)