Wenn die Liebe geht, kommen die Menschen auf komische Gedanken. Sie verkaufen das Haus, kaufen ein großes Auto, ein noch größeres Mobiltelefon, stürzen sich in die Arbeit, in Schulden, in ein Abenteuer, hören Wagner statt Mariah Carey, putzen das Badezimmer, das Auto, wandern mit Skistöcken durch die Stadt, wandern aus, gehen zum Frisör, nehmen Valium, gehen zur Beichte, verlassen den Freundeskreis, lesen Proust, gucken Pornos, räumen die Wohnung um, bringen sich um, nehmen ihr Festnetztelefon mit ins Badezimmer, finden alles prima, finden alles scheiße. Das ist in Hamburg nicht anders als in Düsseldorf oder Stuttgart. Aber wie ist das im Kaff, wo jeder alles mitbekommt? Was kann man machen, wenn alles aus dem Leim geht? Sich verkriechen? Neu anfangen? Alles wieder aufwärmen? In die nächste Disco? Ein Projekt starten? Gute Idee. Etwas machen, was vorher nicht möglich war? Besser!
Mittwochs ist Hähnchentag in Neviges. Kleiner Verkaufswagen mit Grill und Kühlvitrine für Krautsalat, ein Hähnchenmann, viele Stammkunden, gute Lage am Parkplatz im Bahnhofsviertel. Ganze Hähnchen, halbe Hähnchen und Hähnchenkeulen zum Mitnehmen. Wenn Anna den Wagen sieht, atmet sie durch. Sie war jung, als sie heiratete, und sehr glücklich. Und sie bemerkte erst später, dass ihr Mann – etwas älter als sie, fester Job, grüne, grasgrüne Augen, dunkle Haare, etwas kleiner als sie, guter Liebhaber – ein Arschloch war. Blöd bloß, dass sie verliebt war. Hochzeit mit neunzehn, eine Tochter mit einundzwanzig, die zweite mit zweiundzwanzig, größeres Auto, größere Wohnung, Urlaub in Italien, besserer Job mit Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld und Überstundenzuschlägen, mehr Verantwortung, weniger Zeit für die Familie, keine Zeit für Anna. Er der Chef, sie die Hausfrau. Er wurde komisch, geizig, misstrauisch und eifersüchtig auf alles, was sie schön fand – sie machte alles, was er wollte. Sie wollte reden, er wollte nicht. Sie war sein Eigentum. Sie ging weg, er holte sie zurück. Sie ging noch mal weg und war bald wieder da. War das alles für sie? War das gut für sie? Es ging ihnen nicht schlecht, »wenn er nur nicht so geizig gewesen wäre«. Wenn sie heute davon erzählt, ist alles längst vergessen. »Wir hatten keine schlechte Zeit«, sagt sie, »mein Mann hat für uns gesorgt, und ich habe gemacht, was er wollte. Geputzt, gebügelt, die Kinder großgezogen, gekocht und – gespart.« Es gab sonntags einen Braten, danach einen Spaziergang zum Schloss. Ein Bier für ihn, eine Limo, die sie sich mit den Mädchen teilte. Kein Kinobesuch, keine Disco, kein Strauß Blumen, keine Geschenke. Es gab nix mehr von ihm, als die Kinder da waren, und schon gar nix außer der Reihe. Nie ein Eis, selten eine Pizza, die sie allerdings nie für sich alleine hatte, bloß Besuche bei der Tante, Fernsehen auf dem Balkon, früh aufstehen, die Kinder fertig machen, das Frühstück für ihn machen, einkaufen, waschen, kochen, auf ihn warten. Das war’s. Er war müde, wenn er kam. Sie war hellwach. Das Essen stand auf dem Tisch, die Wohnung war aufgeräumt, um acht lief die Tagesschau, und um neun waren sie im Bett. »Ich lag stundenlang wach«, sagt sie, »und träumte von Hähnchen. Von einem halben, frisch gegrillten Hähnchen, ganz für mich alleine.« Wenn ihr Mann, was selten passierte, eins mitbrachte, kriegte sie wenig ab. »Den Schenkel bekam er, die Brust war für die Kinder, für mich blieben nur der Flügel und die Knochen.« Und der Duft. Es war vor allem der Geruch, der sie anzog, als der Hähnchenmann seinen fahrbaren Laden aufmachte. Dieser süße Geruch nach verbranntem Fleisch und Paprika.Ging ihr Mann fremd? Vielleicht. Hatte sie einen anderen? Nein. Er war ihre erste große Liebe oder was sie dafür hielt.Irgendwann war Schluss. Endgültig Schluss. Er musste die Wohnung verlassen – sie fuhr zum Hähnchenmann.
Die ersten beiden Hähnchen aß sie im Auto. Mit dem dritten und vierten fuhr sie in ihre Wohnung, deckte den Tisch, telefonierte mit der Tante, aß die Hähnchen und war kurze Zeit später wieder unterwegs: Hähnchen holen. Diesmal drei. Eins für die Tante, eins für die Cousine und eins für sich. Als die Tante nicht kam, aß sie alle drei. Und dann? »Kam die Tante.« War ihr schlecht? »Noch nicht.« Nach elf Hähnchen, elf ganzen Hähnchen, war Schluss.Sie legte sich ins Bett und wartete zwei Tage ab. War ihr jetzt schlecht? Ja. War sie beim Arzt? Nein. »Was hätte ich ihm sagen sollen? Ich habe mich geschämt.« Wofür? »Blöde Frage«, sagt sie, »elf Hähnchen – der hätte mich eingeliefert.« Und heute? »Ich kann dem Geruch nicht widerstehen. Immer noch nicht. Aber mehr als ein halbes Hähnchen schaffe ich nicht. Zwei halbe vielleicht. Höchstens drei. Dann reicht’s.« Norbert Molitor: Im Kaff der guten Hoffnung. Piper Verlag.