12.1.23

"Großer Tisch mit Neuerscheinungen im Eingangsbereich, Kinderbücher rechts, Belletristik links, Sachbücher geradeaus, Reiseführer, Kochbücher und Aktionsware vor der Kasse. Und eine Spielwarenabteilung mit Geburtstagsfächern im Nebenraum. Die Buchhandlung von Herrn Rüger in Neviges ist vierzig Jahre alt.
Drei Buchhändlerinnen teilen sich die Arbeit. Sie kennen den Namen jedes Stammkunden, alle wichtigen Bücher, und wer ein Buch für ein »hochintelligentes, zwei Jahre altes Kind« sucht, kriegt die richtige Antwort. »Das sagen alle! Wir haben deshalb ausschließlich Bücher für hochintelligente Kinder – und Eltern.«
Herrn Rüger, den Chef, sieht man selten. Nicht, dass er nix macht, er hat drei weitere Läden in benachbarten Kleinstädten, die noch nicht zu Papeterieläden mutiert sind wie viele Kettenläden in der Großstadt. Ein paar Kalender, ein paar Notizbücher, ein paar Grußkarten, neuerdings auch (hässliche) Kugelschreiber müssen reichen. Die Buchhandlung veranstaltet Lesungen in Wülfrath und Mettmann, und einige Leute erinnern sich noch an den großen und großartigen Uwe Johnson, der alle überragte und nach der Lesung mit den Leuten ein Bier in der Stadthallenschänke trank.
Was auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, ist da. Nobelpreisträger dauern ein paar Tage, dann liegen sie im Schaufenster. Helmut Schmidt und Helmut Kohl stehen nebeneinander im Regal, Hans Küng und Günter Wallraff sind Dauergäste. Wie der Papst.
Was nicht da ist, wird besorgt oder vorbestellt. Stammkunden, die einen bestimmten Autor irgendwann gekauft haben, werden angerufen, sobald etwas Neues erscheint. Und wenn man nicht weiß, was man seiner Nachbarin zum Geburtstag schenken oder dem Gemüsehändler zu einer Einladung mitbringen soll, kann man fragen. Die Rüger-Frauen wissen, was die Nachbarin liest. Und packen es hübsch ein.
Mit den Millionen digitalen Titeln im Internet (und den vielen kostenlosen Klassikern) kann die Buchhandlung nicht mithalten. Bei gedruckten Büchern ist das anders. Die kosten nicht mehr, sind genauso schnell oder schneller da – und können mit einer Mail selbst mitten in der Nacht bestellt werden. Amazon-Link genügt.
Es gibt viele kleine Schaufenster. Eins für Kultur, eins für Veganer, eins für Mädchen, eins für Kinder, ein Schaufenster für Leseratten, eins für Schüler und eins für Lehrer und Besserwisser, die ohne den allerneuesten Duden nur ein halber Mensch wären. Das schönste Fenster ist das Kulturfenster. Kein einziges Buch, aber alle wichtigen Informationen, ohne die das Kulturleben im Ort zusammenbrechen würde. Das Fenster ist zugekleistert: Ausstellung vom örtlichen Kunstverein, Flötenkonzert im Mariendom, »Jesus- inspirierter Wohnzimmerpop« in der evangelischen Stadtkirche, Schachabend im Café am Brunnen, Laternenfest in der Fußgängerzone, Mittelaltermarkt vor »Schloss Dauerbaustelle«, Gesundheitstag vom Dorfapotheker.
Direkt daneben die Veganer, die auf dem besten Weg sind, den Apotheker und den Schulmediziner überflüssig zu machen. Glauben sie.
Basisches Kochen ist nicht mehr aktuell, also nicht mehr im Schaufenster, vegetarisches Kochen ist nach wie vor da, Ayurveda hält sich gerade noch im Regal – und Karin Duves Anständig essen muss bestellt werden."

Norbert Molitor: Im Kaff der guten Hoffnung, Piper Verlag, 2016. Aktueller als dieser Text (das ist die schlechte Nachricht): Rüger macht im Oktober zu